Der Schädel „atmet“

Eine der Voraussetzungen der Arbeit mit dem craniosacralen System ist die erst in diesem Jahrhundert gemachte Entdeckung, daß die verschiedenen durch Nähte miteinander verbundenen Teile des Schädels sich in Bewegung befinden. Erzeugt wird diese Bewegung durch die Bewegung der Gehirn- und Rückenmarksflüssigkeit.
Weil es sich beim craniosacralen System um ein grundlegendes vitales System handelt, wird es auch als „primärer respiratorischer Mechanismus“, also als „Grundatem“ des Körpers bezeichnet.
Dieser „Grundatem“ bewegt am Kopf die einzelnen Schädelknochen an ihren Nähten. Die Dehnbarkeit der Knochennähte liegt unter einem Millimeter und kann dennoch – für den, der es gelernt hat – präzise gespürt und bei Bedarf korrigiert werden.
Nicht nur der Bereich zwischen Schädel und Kreuzbein, sondern der ganze Körper des Menschen befindet sich, bedingt durch den craniosacralen Rhythmus, in einer wellenförmigen Bewegung des Öffnens und Schließens. In Körperabschnitten bei denen diese Bewegung eingeschränkt oder „blockiert“ ist, können durch bestimmte therapeutisch Handgriffe Korrekturimpulse gesetzt werden. Jedes Krankheitsbild und jede Energieblockade verursacht spezifische Abweichungsmuster von der rhythmischen Grundbewegung. Diese zu beheben ist Aufgabe craniosacraler Therapie.

Die Korrespondenz körperlicher und geistig-emotionaler Probleme

Für jeden körperlichen Starrezustand gibt es ein psychisches Gegenstück im Unbewußten das dem Grad der körperlichen Symptomatik entspricht. Diese Muster haben sich immer als Reaktion auf widrige Umstände entwickelt.
Wer gelernt hat, craniosacrale Bewegungen zu spüren, der kann klare Erfahrungen auf der Ebene psychosomatischer Beziehungen machen. Eine davon ist, daß sich z.B. eine Starrheit des Denkens auf der Ebene der feinen Knochenbewegungen als Starrheit der Schädelknochen widerspiegelt. Die volkstümliche Redewendung von der Engstirnigkeit erweist sich auf dieser Ebene als unumschränkt wahr.

Die Kraft der sanften Berührung

Der Mensch wird aus der Sicht dieser Methode als ganzheitliches und komplexes Energiesystem betrachtet und entsprechend behandelt. Das bedeutet, daß es nicht um isolierte Korrekturen von bestimmten Beschwerden geht, sondern um die Auflösung von in den Körper eingeschriebenen physiologisch oder emotional bedingten Blockaden, um so den Menschen wieder in sein energetisches Gleichgewicht zu bringen. Dies ist ein Ansatz, den die Craniosacraltherapie mit der chinesischen Medizin und mit anderen integrativen Körpertherapien gemeinsam hat. Die Behandlung ist sanft, einfühlsam und kommt meist mit minimalem Druck aus. Der Behandler legt seine Hände da auf, wo er eine Störung im craniosacralen Rhythmus festgestellt hat. Er arbeitet meist mit indirekten Techniken, d.h. er erzeugt keinen Gegendruck, sondern läßt seine Hände in die Richtung gehen, in die die Faszien oder die Knochen sich von selbst hinbewegen, hält sanft den Druck am Ende dieser Bewegung und wartet, bis eine Entspannung oder Lösung eintritt. Solch eine Art des Zugriffs auf den Körper geht synchron mit der sich immer mehr durchsetzenden Erkenntnis, daß bei der Behandlung des menschlichen Körpers eine über einige Minuten ausgeübte sanfte Kraft mehr bewirken kann als ein schmerzhaftes Durchbrechen von Blockaden, da der Körper keine Signale bekommt, durch die er eine Abwehrspannung aufbaut. Zudem fällt es dadurch dem Klienten leichter, dem Behandler zu vertrauen und loszulassen.
John Upledger schreibt in diesem Zusammenhang: „Es dämmerte mir, daß das wichtigste für einen guten craniosacralen Therapeuten Hingabe, Mitgefühl, Sensibilität und dergleichen ist… Es kommt nicht darauf an, welche Vorbildung der Therapeut besitzt, sei es nun physikalische Therapie, Massage, Allgemeinmedizin, Chiropraktik, Krankenpflege oder Osteopathie, er kann immer lernen, craniosacrale Techniken und Ergänzungsvarianten anzuwenden, um gute therapeutische Resultate zu erzielen“.Das Spektrum der Anwendung craniosacraler Arbeit reicht von einer vitalisierenden und entspannenden Allgemeinbehandlung über die integrative Behandlung von körperlichen Problemen bis hin zur Aufarbeitung tiefer emotionaler Traumata.
Und nicht zuletzt liegt der Reiz dieser Arbeit in der besonderen Qualität für den Behandler. Er muß lernen, sich meditativ auf seinen Klienten einzustimmen und der Intuition und Intelligenz seiner Hände zu vertrauen. Das Erspüren der subtilen Eigenbewegungen des craniosacralen Systems, der Knochen und des Gewebes eröffnet ihm immer tiefere Dimensionen der Wahrnehmung.